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Wo wir herkommen

Lesezirkel mit Rudolf Bussmann

Literaturhaus Basel

Kursdaten
Montag, 16.10./6.11./27.11./11.12.2023, jeweils 19-21 Uhr

Eine der existentiellen Fragen des Menschen ist die nach seinen Wurzeln. Sie bekommt in Zeiten des Umbruchs und der Migration oder auch während einer persönlichen Krise besonderes Gewicht. Die Literatur geht dieser Frage seit jeher nach; das Alte Testament und die griechischen Heldensagen sind illustre Beispiele. In der heutigen, durch Verwerfungen gekennzeichneten Gegenwart ist die Suche nach der Herkunft zu einem gewichtigen erzählerischen Anliegen geworden. Im Lesezirkel, geleitet vom Schriftsteller Rudolf Bussmann, stehen vier Romane im Vordergrund, die durch ihre originellen und aufschlussreichen Variationen des Themas auffallen. Die jeweiligen Protagonist:innen stehen in einer Gegenwart, die mit dem kulturellen System, aus dem sie herstammen, nicht mehr vereinbar ist. Das führt zu einer Reihe von Konflikten.

Der Hauptkonflikt besteht im Fall der Ich-erzählenden Hauptfigur in Kim de l’Horizons Blutbuch zwischen dem erwachenden Selbstbewusstsein eines non-binären jungen Menschen und der Biederkeit einer Berner Kleinbürgerfamilie. Mit einem spektakulären sexuellen und sprachlichen Gewaltakt gelingt es der Hauptfigur, die engen Verhältnisse zu sprengen. – Der Bruch mit der Vergangenheit ist in Mina Havas Erstling Für Seka von Anfang an vollzogen. Sekas Eltern haben Bosnien verlassen und sich in der Schweiz niedergelassen. Die Tochter kann die beiden Kulturen nicht miteinander vereinbaren. Mit Hilfe von Fotos und schriftlichen Zeugnissen verschafft sie sich eine Übersicht über ihre Situation. – Auf der Insel, die Dörte Hansen in Zur See beschreibt, hat sich der Wechsel vom traditionellen Fischfang zum Tourismus langsam, aber stetig vollzogen. Der Strukturwandel hinterlässt eine orientierungslose, zwischen Depression und Geschäftstüchtigkeit oszillierende junge Generation. – Die Familie der Ich-Erzählerin in Sibir von Sabrina Janesch wurde von den Sowjets am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Kasachstan verschleppt. Die Erzählerin rekonstruiert aus den Erzählungen ihres Vaters das Leben im Exil, das mit ihren eigenen Erfahrungen in der deutschen Gegenwart scharf kontrastiert.

Die Bücher, allesamt Neuerscheinungen aus den Jahren 2022 und 2023, werden an vier Abenden besprochen. Ausgangspunkt des Gesprächs bilden die Leseerlebnisse der Kursbesucher:innen. Die gemeinsame Diskussion will die individuelle Lektüre vertiefen, auftauchende Fragen klären und verschiedene Lesarten miteinander vergleichen. Die Aufmerksamkeit gilt neben dem Inhalt auch der literarischen Form und der sprachlichen Gestalt der Werke. Die Bücher sollten von den Teilnehmer:innen auf das jeweilige Datum hin gelesen sein.

Anmeldung
direkt über das Anmeldeformular oder über info@literaturhaus-basel.ch oder +41 (0)61 261 29 50

Kursleitung
Rudolf Bussmann (Autor)

Kosten
CHF 160/120 (Mitglieder LiteraturBasel*)

Anmeldeschluss
Montag, 18. September 2023

Werke und Daten ihrer Besprechung:

Sabrina Janesch: Sibir (Montag, 16. Oktober 2023)
Erst mit der Zeit geht Leila Ambacher auf, dass ihre Familie im deutschen Dorf, wo sie lebt, zu Einwohner:innen zweiter Klasse zählt. Denn, obwohl Deutsche, sind ihre Eltern Eingewanderte, Rückkehrer aus dem Exil in Kasachstan. Dorthin sind sie von der Sowjetarmee nach 1945 verschleppt worden. Leila beginnt, sich mit der Kindheit ihres Vaters in Sibirien zu beschäftigen und hält die Erlebnisse ihrer eigenen Kindheit in Deutschland in einer spannenden erzählerischen Montage gegen das, was er erlebt hat.
(Rowohlt 2023, 350 Seiten)

Kim de l’Horizon: Blutbuch (Montag, 6. November 2023)
Kim de l’Horizons Buch ist vieles in einem: der Lebensbericht einer jungen homosexuellen Person, die ihre Sexualität hemmungslos auslebt, das Protokoll eines Menschen, der sich zu keinem Geschlecht zugehörig fühlt und nicht weiss, wie er sich definieren soll, die Auseinandersetzung mit einer kleinbürgerlichen Familie mit ihren Zwängen und Tabus. Und zudem eine spannende Reflexion darüber, wie das alles erzählerisch zu bewältigen sei. Kim de l’Horizon lässt Leser:innen bei deren Modellversuchen zuschauen.
(Dumont 2022, 334 Seiten)

Dörte Hansen: Zur See (Montag, 27. November 2023)
In den wärmeren Jahreszeiten überschwemmen Festlandtourist:innen die Nordseeinsel, auf der unter anderem die Familie Sander lebt. Deren erwachsene Kinder reagieren unterschiedlich auf die Veränderungen: Henrik stellt Kunstobjekte aus Strandgut her, Ryckmer, der früher zur See fuhr, macht in Kapitänsuniform Urnenbestattungen, Eske arbeitet in einem Heim für Alte und Demenzkranke. Sie alle haben den Anschluss an das traditionelle Leben verloren und können an die alte Ordnung, die den Inselbewohner:innen ihren Sinn zuwies, nicht mehr anknüpfen
(Penguin 2022, 253 Seiten)

Mina Hava: Für Seka (Montag, 11. Dezember 2023)
Eine junge Frau wächst in der Schweiz auf, während ihre Eltern, aus Bosnien eingewandert, noch ganz von ihren ländlich-patriarchalen Verhaltensweisen geprägt sind. Ein Studium, eine geglückte sprachliche Integration, verschiedene Ortswechsel reichen nicht, ihre kulturelle Desorientierung zu überwinden. Eine Recherchearbeit in privaten und öffentlichen Archiven soll ihr helfen, ihre Situation zu begreifen. Die gesammelten Zeugnisse führen sie in die Zeit des jugoslawischen Bürgerkriegs, aber auch zu prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen in der Schweiz.
(Suhrkamp 2023, 278 Seiten)

Mitwirkende und Biografien
Kursleitung: Rudolf Bussmann

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